ARGUMENTE - Das Leitbild des NABU –
Lebendige Flüsse für Deutschland
1. Zielstellung
Hochwasserschäden, Probleme der Wasserkraftnutzung, Verlust von
Feuchtgebieten und der fortgesetzte Ausbau
von Flüssen zu Wasserstraßen haben verstärkt öffentlich Fragen zum Thema
Flussausbau aufgeworfen, die zunehmend kontrovers diskutiert werden und einer
populärer werdenden gesamtgesellschaftlichen Nachhaltigkeitsstrategie nicht
selten entgegenstehen. Dabei wird immer wieder deutlich, dass mit dem Verlust
intakter Auen und natürlicher Flüsse auch die geeigneten Bewertungsmaßstäbe für
die aktuelle Flusspolitik verloren gegangen sind. Der NABU wird mit den
negativen Entwicklungen dieser, neben den Küsten, wohl dynamischsten Ökosysteme
immer öfter konfrontiert und braucht in der tages-politischen
Auseinandersetzung, aber auch zur klaren Ausrichtung seiner Verbandsstrategie,
ein modernes Leitbild für „Lebendige Flüsse“, welches realistische
Entwicklungsziele und daraus resultierende Forderungen enthält.
Die Wasserrahmen-Richtlinie der Europäischen Union ist hierbei eine wesentliche
Richtschnur. Sie definiert die Herstellung eines guten ökologischen Zustandes
für unsere Flüsse als verbindliches Ziel. Die Bewertungsmaßstäbe sind sehr
anspruchsvoll und weitreichend in ihren Konsequenzen. Die Forderungen des NABU
können diese Bewertungsmaßstäbe nicht mehr übertreffen
und sollen es auch nicht. Vieles, wenn nicht sogar alles, hängt aber von der
Umsetzung in Deutschland selbst ab. Hier zeichnen sich bereits erste Defizite
ab. Neben der Analyse wesentlicher naturwissenschaftlicher Grundlagen muss
deshalb verstärkt auf die historisch gewachsene Gesellschaftsphilosophie in
Deutschland als Kernproblem eingegangen werden. Nur so lassen sich aus der
Gegenüberstellung von Vision und Restriktion im Leitbild
Realisierungsmöglichkeiten und Forderungen ableiten. Das Leitbild „Lebendige
Flüsse“ des NABU ist bewusst allgemein gefasst worden, ohne dabei unkonkret zu
sein. Eine relativ starke Abstraktion der Verhältnisse war nötig, um diesem
Anspruch gerecht zu werden. Für einzelne Flüsse können in einem weiteren Schritt
relativ einfach Einzelziele abgeleitet werden. Das Hauptinteresse liegt dabei im
besonderen Maße bei den schiffbaren Flüssen Deutschlands, weil sie dem größten
Nutzungsdruck unterliegen. Das hier formulierte Leitbild bezieht sich allerdings
auf alle Flüsse Deutschlands. Eine Grenze zu den Bächen soll hier bewusst offen
gelassen werden, da die definierten Grundsätze auch für diese gelten.
2. Flüsse und ihre Auen als System
In Mitteleuropa und insbesondere in Deutschland wurde in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts der systematische Ausbau aller größeren Flüsse und Ströme
eingeleitet. Damit fehlt uns heute bei Analysen und Leitbild-Diskussionen der
Bezug zur natürlichen Basis. Die Erfahrung zeigt, dass sich mit den
Veränderungen in den Auensystemen auch die Einstellung der Menschen zu diesen
drastisch verändert hat. Aktuelle naturschutzfachliche Leitbilder orientieren
sich deshalb heute kaum an
Funktionen, sondern sind oftmals emotional geprägt oder auf Einzelziele
ausgerichtet. Damit fehlt ihnen dann die erforderliche Objektivität. In diesem
Abschnitt sollen die wesentlichen Parameter und Merkmale natürlicher Flüsse in
abstrakter Form
benannt werden. Ein „eigenes Erleben“ kann zwar so nicht ersetzt, die
Herangehensweise bei der Leitbildfindung aber besser nachvollzogen werden. Die
folgenden Parameter bestimmen Ausbildung und Charakter jedes Flusses:
1. Wasserdargebot
2. Klima
3. Geomorphologie
4. Substrat
Während das Wasserdargebot die zur Verfügung stehende Energie für alle
Umformungsprozesse in Fluss und Aue liefert, setzen die geomorphologischen
Verhältnisse, wie erosionsfähige Talraumgröße, Talraumgestalt und Geländegefälle
der Energiefreisetzung lokal Grenzen. Die Substratzusammensetzung hingegen
beeinflusst die Erosionsfähigkeit und Durchlässigkeit des Talraums, mit den
entsprechenden Konsequenzen für Geschiebehaushalt und Energiefluss. Das Klima
beeinflusst neben dem mengenmäßigen Wasserdargebot die möglichen Biozönosen und
auch die zeitliche Verteilungsfunktion des Wasserdargebotes. Diese Parameter
führen zu den bekannten Hauptmerkmalen natürlicher Flüsse, die weitgehend
unabhängig
von ihrem Charakter vorhanden sind. Dabei gleicht kein Flusssystem einem
zweiten, so dass die einzelnen Merkmale aufgrund der lokalen Spezifika
unterschiedlich stark ausgeprägt sein können. Die Hauptmerkmale aller Flüsse
sind:
1. hohe Abflussdynamik
2. freie Morphodynamik in Fluss und Aue
3. durchgängiger und freier Sedimenttransport
4. ständige selbstständige Verjüngung des Systems
5. aquatisches Bindeglied zwischen Meer und Binnenland
Die genannten abiotischen Faktoren bestimmen primär die Entwicklung auch des
biotischen Potenzials in Fluss und Aue, welches wiederum dann auf diese zurück
reflektiert. Aus diesem Grunde muss zur Ableitung eines naturschutzfachlichen
Leitbildes auf das biotische Potenzial der Flüsse nicht unbedingt eingegangen
werden, es bildet sich in der Folge intakter Prozesse theoretisch
von alleine heraus. In der Praxis wird es allerdings immer wieder auf
Kompromisse hinauslaufen, so dass eine selbstständige Wiederbesiedlung mit
heimischen Arten nicht immer ohne aktive Maßnahmen erfolgen kann. Ein Beispiel
dafür ist der Atlantische Lachs, der einstmals in allen großen deutschen
Stromgebieten heimisch war. Ohne menschliche Hilfe würde diese Art wohl kaum
wieder unsere Flüsse besiedeln. Die großen Anstrengungen zur Wiederbesiedlung
des Rheins mit Salmo salar tragen Symbolcharakter, zeigen aber auch die
Schwierigkeiten einer Wiedereinbürgerung praktisch ausgestorbener Arten.
Typisch für Flussauen und zwingende Voraussetzung für ein intaktes Auenökosystem
ist die hohe Abfluss- und Umlagerungsdynamik. Damit findet eine ständige
Veränderung beinahe aller Standorte in mehr oder weniger kurzen Zeiträumen
statt. Die hohe Turbulenz des fließenden Wassers verursacht zudem auch mitten im
Fluss die unterschiedlichsten Strömungsmuster und damit ein enges Nebeneinander
unterschiedlicher Standortbedingungen. Die Folge sind Lebensgemeinschaften, die
hoch spezialisiert und an diese Dynamik angepasst sind. Sie haben ihren
Lebensrhythmus an die Gegebenheiten angepasst. Auch das Leben in der Aue folgt
diesem Rhythmus. Bezieht man die Vielzahl von Pionierstandorten
und die Folgen von Extremereignissen mit ein, so erweitert sich die Palette der
typischen Biotope einer Flussaue. Das Ergebnis ist ein überdurchschnittliches
Arteninventar, von Arten der Trockenstandorte, bis hin zu den an die
unterschiedlichen Strömungen oder an Stillwasser angepassten Arten. Das große
Nahrungsangebot der Flussauen als Folge einer natürlichen Nährstoffakkumulation
lockt zudem Durchzügler an, insbesondere Vögel. In der Unteren Havelniederung
z.B., dem größten und bedeutendsten Binnenfeuchtgebiet im westlichen
Mitteleuropa, konnten in den letzten 10 Jahren über 1000 vom Aussterben bedrohte
und stark gefährdete Tier- und Pflanzenarten nachgewiesen werden. Dabei ist die
Untere Havel seit etwa 1875 systematisch ausgebaut worden. Ihr ursprüngliches
biotisches Potenzial war nachweislich wesentlich größer. Alleine die Bestände
der strömungsliebenden Flussfische sind auf schätzungsweise 10%
zusammengebrochen. Dynamik, hoher Energieumsatz und Komplexität sind
kennzeichnend für natürliche und intakte Flussauen. Daraus resultiert das dichte
und sich zeitlich ändernde Mosaik von spezifischen Lebensräumen. Die bekannte
überdurchschnittlich hohe Artenvielfalt der Flussökosysteme und ihre enorme
ökologische Bedeutung sind das Ergebnis und der Anlass für die notwendigen
Schutzbemühungen.
3. Gesellschaftlicher Rahmen
Die Kenntnis der Ursachen der heutigen Gesellschaftsphilosophie ist
Voraussetzung für eine reale Einschätzung der Möglichkeiten und damit Basis für
die Handlungsstrategien. Neben den natürlichen Merkmalen der Flüsse und ihrer
Auen kommt der Betrachtung des gesellschaftlichen Rahmens daher eine besondere
Bedeutung zu. Zunächst muss festgestellt werden: Die heutige Philosophie
bezüglich des Umgangs mit Flüssen in Deutschland ist das Ergebnis einer langen,
bisher vermeintlich erfolgreichen Überlebensstrategie! Sucht man die Ursachen
für das heutige Verhalten von Menschen in Bezug auf Flussauen, so kann man
feststellen:
1. Flussauen sind unbeständige und unkalkulierbare Systeme wegen ihrer:
- hohen Dynamik,
- Komplexität und
- großen Energie- bzw. Stoffumsetzungsprozesse.
2. Damit stehen die Merkmale natürlicher Flüsse im Grundsatz historischen und
zum Teil auch aktuellen menschlichen Nutzungsansprüchen und Wertmaßstäben
entgegen. Hierzu zählen:
- möglichst hohe Berechenbarkeit und Regelbarkeit aller Prozesse,
- maximale individuelle ökonomische Wertschöpfung,
- monetäre Wertsteigerung des privaten Besitzes sowie
- Vergrößerung der Einflusssphäre des Menschen.
Der Widerspruch zwischen Wertmaßstäben und natürlichen Gegebenheiten besteht
schon sehr lange. Mit der Philosophie der schnellen Kolonisation und
Kultivierung des neuen Landes versuchte man schon im frühen Mittelalter
kriegerisch gewonnene Territorien im eigenen Herrschaftsbereich dauerhaft zu
verankern. Später formulierte der Preußenkönig Friedrich II.: „Der Natur
abzuringen, was rechtmäßig dem König gehört und jeden Fußbreit zu verteidigen“
als Grundsatz für die Landgewinnung in Feuchtgebieten mit dem Leitgedanken Karl
des Großen: „Nur ein Volk mit vielen Köpfen ist ein starkes Volk“. Und die
Ernährung dieser Köpfe brauchte nun einmal Ackerland. Das Verständnis von Natur
als Feind ließ „Kapitulation vor Naturgewalten“ als menschliche Schwäche
erscheinen. Mit den wachsenden Möglichkeiten entstand aus einer
Überlebensstrategie des frühen Mittelalters vor etwa 250 Jahren die neuzeitliche
Regelungsneurose, von der der preußische Staatsmann Wilhelm von Humboldt bereits
in seinem Tagebuch resignierend feststellte: „Allein die Möglichkeit begrenzt
und nicht der Sinn“. Die Ausrichtung des Staatszieles auf Wachstum und
Kultivierung (ökonomische Nutzbarmachung) brachte eine Reihe von Gesetzen und
auch Behörden mit sich. Die längste Tradition in Deutschland dürfte dabei die
Preußische Wasser- und Deichbaubehörde, als Vorläufer der modernen
Wasserbehörden der Länder und der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes,
haben.
Bemühungen zum Schutz der Flüsse und Auen gibt es ebenso lange, wie deren Ausbau
betrieben wird. Immer haben besonders die Menschen, die vom Fluss gelebt haben,
sich für dessen Erhalt eingesetzt und den Ausbaumaßnahmen nicht selten auch
Widerstand entgegen gesetzt. Zahlreiche Beispiele sind überliefert. So wehrten
sich insbesondere die Fischer gegen den Ausbau der Unteren Havel über
Jahrzehnte. Ihre zahlreichen Proteste sind in Akten dokumentiert und ihr
verzweifelter Widerstand ist sogar Gegenstand eines Romans (Wilhelm Kotzde: Frau
Harke – Der Roman einer Landschaft). Ähnliche Berichte gibt es auch von der
Oder, wo Einheimische im 18. Jahrhundert die durch Friedrich II. begonnenen
Deichbauarbeiten zur Trockenlegung des Oderbruches störten, bzw. sogar gerade
fertig gestellte Deiche nachts wieder durchstachen (Theodor Fontane: Wanderungen
durch die Mark) oder vom Niederrhein, wo regelmäßig nach verheerenden
Hochwassern von den Anliegern gefordert wurde, die Deiche nicht wieder zu
reparieren. Auch die Elbfischer kämpften lange vergeblich gegen den im 19.
Jahrhundert beginnenden Buhnenbau, bis die drastisch reduzierten Fischbestände
diesem Kampf ein ökonomisches Ende bereiteten. Lange gab es zum Wassertransport
oder zur Wasserenergie keine Alternative und auf die fruchtbaren Böden in den
Auen konnte man nicht verzichten, da die landwirtschaftliche Nutzfläche zur
Ernährung der schnell wachsenden Bevölkerung nicht ausreichte. So ist es nicht
verwunderlich, dass erst im 20. Jahrhundert in Deutschland auch Werte wie:
- sauberes Wasser,
- hoher Erholungswert der Landschaft oder
- Schutz von Lebensräumen wildlebender Arten
gesetzlich verankert und durch neue Behörden auch umgesetzt wurden. Da
allerdings die vorher genannten Ziele und Behörden bis heute unverändert weiter
bestehen, existiert ein un-gelöster Widerspruch zwischen den entgegengesetzten
Zielstellungen an Flüssen, der nur in einem anerkannten Leitbild gelöst werden
kann. Die wohl weitreichendste und aktuellste Forderung ergibt
sich aus der europäischen Wasserrahmenrichtlinie, die bis 2003 in nationales
Recht umgesetzt werden muss.
Sie verlangt die Herstellung eines ökologisch guten Zustandes für alle Flüsse
und zielt damit klar auf die Wiederherstellung natürlicher Prozesse ab. Erstmals
werden auch Schutzziele für das ganze Einzugsgebiet definiert. Verstärkt wird
dieser Entwicklungsanspruch durch das NATURA 2000 System der EU, wenn die
betreffenden Flüsse z.B. in sogenannten FFH-Gebieten liegen. Hier wird sogar ein
Vorrang für den Erhalt der natürlichen Lebensräume formuliert. Man kann
erkennen, dass die aktuelle Gesellschaftsphilosophie eine lange Tradition
aufweist und Instrumente zu ihrer Umsetzung geschaffen wurden, die wiederum eine
eigene Lobby im Staatsgefüge bilden. Dabei steht die Frage nach dem Sinn oder
der ökonomisch vertretbaren Durchführbarkeit einer Aufgabe oftmals bereits im
Hintergrund. Nicht selten geht es um das Prinzip! Der Schutz der Flüsse und Auen
ist dagegen ein junges gesellschaftliches Anliegen, zu dessen Durchsetzung die
notwendigen Instrumente erst noch geschaffen bzw. gestärkt werden müssen. Dies
kann neben der Etablierung neuer Instrumente auch die Neuorientierung
vorhandener Behörden bewirken. Die Widersprüche entgegengesetzter gleichrangiger
Zielstellungen können nur durch ein gesellschaftlich akzeptiertes Leitbild
gelöst werden!
4. Das Leitbild
Ein modernes Leitbild muss sich in erster Linie an den oben genannten
Hauptmerkmalen natürlicher Flüsse orientieren. Die Gewährleistung der
Hauptmerkmale impliziert automatisch eine systemspezifische Entwicklung der
Flüsse und Auen. Die Toleranz einer Unbeständigkeit im Verhalten und die
Akzeptanz einer gewissen Unvorhersagbarkeit von Entwicklungen sind allerdings
elementare Voraussetzungen. Als sozioökonomische Hauptziele müssen gleichzeitig
die kostengünstige und nachhaltige Nutzung von Gratisleistungen und ein
wirksamer Siedlungshochwasserschutz auf niedrigst möglichem Energieniveau
verfolgt werden. Ein optimaler Prozessschutz lässt sich gut mit dem Prinzip der
Nachhaltigkeit verbinden. Probleme und Restriktionen ergeben sich aus den
bereits weiter oben dargestellten konservativen Nutzerinteressen und
Wertmaßstäben. Die nachhaltige Nutzung von Gratisleistungen, wie etwa die
Stoffsenken- und Reinigungsfunktion der Auen, der Fischreichtum, der
Erholungswert, ein natürlicher Hochwasserschutz, die Speicherung von Wasser in
der Landschaft oder eben die natürliche Fruchtbarkeit der Auenböden, steht dabei
nicht im Widerspruch zur Dynamik. Berücksichtigt man Nutzerinteressen und
Sicherheitsbedürfnisse, bietet sich als Lösung des Grundkonfliktes zwischen
natürlichen Merkmalen von Flüssen und derzeitigen gesellschaftlichen Ansprüchen
folgender Kompromiss an:
1. Als Ziel wird die Entwicklung naturnaher Flüsse und Auen anerkannt, wobei die
oben definierten Hauptmerkmale die Bewertungskriterien bilden. Das bedeutet,
dass in allen Flüssen Deutschlands mindestens die Gewässerstrukturgüteklasse
II (nach LAWA) und die Gewässergüteklasse II (nach DIN) erreicht werden muss.
Außerdem ist ein repräsentatives Netz von Referenzflüssen aller Größen und für
alle Naturräume mit der Ge-wässerstrukturgüteklasse I sowie der
Gewässergüteklasse I aufzubauen.
2. Dazu werden raumordnerisch abgegrenzte Gebiete zur Verfügung gestellt. Die
Größe dieser richtet sich nach der Notwendigkeit zur Wahrnehmung der natürlichen
Grundfunktionen und dem Prinzip des optimalen Siedlungshochwasserschutzes
auf minimalem Energieniveau.
3. Eine räumliche Entkopplung von Flüssen und konkurrierenden Nutzungsansprüchen
wird als notwendige Voraussetzung großräumig angestrebt. Damit kann als Leitbild
ein naturnaher Fluss in einem abgegrenzten und von konkurrierenden
Nutzungsansprüchen weitgehend freien Raum definiert werden. Die Naturnähe von
Fluss und Aue wird dabei jeweils durch mindestens die Gewässerstrukturgüteklasse
II und die Gewässergüteklasse II dokumentiert.
5. Forderungen
5.1 Elementare Voraussetzungen
Die Durchsetzung des neuen Leitbildes für Flüsse und Auen verlangt in erster
Linie eine Neuausrichtung der gesellschaftlichen Grundphilosophie. Elementare
Voraussetzungen sind dabei:
- ein neues raumordnerisches Entwicklungsziel in Flussauen,
- Stopp von Nutzungsintensivierungen in Flüssen und Auen,
- Vorrang öffentlicher Interessen sowie
- Entkopplung und finanzielle Belastung von unverträglichen Nutzungsansprüchen
Raumordnerisches Entwicklungsziel in Flussauen
Zunächst müssen in der Landesplanung alle rezenten Flussauengebiete und die
stark hochwassergefährdeten Teile der historischen Aue als Vorranggebiete für:
- Hochwasserschutz
- Trinkwasserschutz
- Naturschutz und
- Erholung
ausgewiesen werden. Für die Hochwasserrisikogebiete in der historischen Aue gilt
es, zusätzliche Kriterien festzulegen:
- Ausweisung als Rückbaugebiet für bestehende kleinräumige Bebauungen mit klarem
Zeitziel
- Ausschluss von Förderungen für Entwicklungsmaßnahmen im Siedlungsraum, dafür
aber
Schaffung von attraktiven Angeboten zur Umsiedelung in gefahrärmere Bereiche.
Eine Ausnahme bilden große Städte und Ballungszentren. Hier ist ein Rückbau kaum
möglich. Die Bebauung muss als irreversibel gelten. Deshalb sollte hier gelten:
- Das Gefährdungspotenzial ist nicht zu erhöhen, besser zu senken.
- Für die „verlorenen“ Retentionsräume sind Ausgleichsfläche zu schaffen.
Die Forderung nach Rückbau von kleinräumigem Bebauungen mag zunächst
unverhältnismäßig erscheinen. Bei einer Kosten-Nutzen-Betrachtung stellt man
aber nicht selten fest, dass die Aufwendungen für die Sicherung solcher
Standorte in der Regel unverhältnismäßig hoch sind. So ist etwa nach dem
Oder-Hochwasser von 1997 der Wiederaufbau der Bebauung in der
Ziltendorfer Niederung genauso hoch zu veranschlagen, wie ein äquivalenter
Neubau im hochwasserfreien Raum. Der Wiederaufbau verursachte aber zudem
weiterhin ständig erhöhte Sicherungsmaßnahmen für das ehemalige
Überflutungsgebiet, während eine Deichrückverlegung an dieser Stelle nur
einmalige Kosten verursacht hätte und zudem einen verbesserten
Hochwasserschutz für die Unterlieger mit sich bringen könnte. Das
raumordnerische Ziel für den Fluss selbst muss der
naturnahe Fluss mit mindestens der Gewässerstrukturgüteklasse II und der
Gewässergüteklasse II sein. Dazu sind Eckpunkte bezüglich der Vorrangnutzung und
ein Zeitziel zu deren Erreichung zu benennen. Stop von Nutzungsintensivierungen
in Flüssen und Auen Eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Umsetzung des
Leitbildes ist die strikte Bindung landwirtschaftlicher und
forstwirtschaftlicher Förderung an eine standortangepasste Nutzung der Flächen.
Außerdem müssen alle schädigenden Nutzungen unterbunden werden:
- Auf Auenstandorten darf demnach nur noch eine extensive Grünlandnutzung bei
Akzeptanz der natürlichen Standortverhältnisse erfolgen.
- Auenwälder in naturnaher Ausprägung sind nur noch in Resten in Deutschland
vorhanden, hier ist dem Schutz absolute Priorität einzuräumen.
- Andere Nutzungen, wie etwa Acker oder Intensivgrünland, sind auszuschließen.
- Auf Moor-Standorten ist jegliche landwirtschaftliche Nutzung einzustellen und
eine Regenerierung des Moorkörpers einzuleiten.
- Außerdem muss die Festschreibung von Eckpunkten für eine nachhaltige Nutzung
dieser Standorte erfolgen. Entwässerungsmaßnahmen sind etwa zu unterbinden.
Außerdem ist ein Bebauungsverbot für alle Moor- und Auenstandorte
festzuschreiben, unabhängig davon, ob es sich um rezente oder historische
Auenflächen handelt. In Großstädten und Ballungsräumen ist zumindest eine
weitere Inanspruchnahme von Auen- bzw. Moorflächen zu unterbinden. Alle
retentionswirksamen Standorte im Einzugsgebiet sind zu erhalten und bezüglich
ihrer Funktionalität zu optimieren.
Insbesondere in den Auen geregelter Flüsse herrscht heute selbst im vermeintlich
extensiv bewirtschafteten Grünland ein starker Druck auf die Flächen bezüglich
einer frühzeitigen Flächennutzung. In eingedeichten Flächen kommt es zudem zu
unausgeglichenen Nährstoffbilanzen, die dann durch Düngung ausgeglichen werden.
Die ausschließlich extensive und an die natürlichen Verhältnisse angepasste
Grünlandnutzung ist also Voraussetzung für die Duldung flusseigener
Wesensmerkmale.
Vorrang öffentlicher Interessen
In Auen und Mooren muss der Vorrang öffentlicher Interessen formuliert und
durchgesetzt werden. Auen- und Moor-Standorte sollten deshalb im Rahmen von
Enteignungsverfahren von der öffentlichen Hand übernommen werden, wenn dieses
zur Durchsetzung notwendiger Maßnahmen erforderlich ist. Zudem sind die
Uferbereiche im Rahmen aller gewässer-angrenzenden
Flurbereinigungsverfahren durch die öffentliche Hand zu übernehmen. Weiterhin
sind Uferparzellen innerhalb solcher Verfahren entlang der Uferlinie
auszurichten. Dieses soll die Verfügbarkeit von Gewässerrandstreifen bei
Entwicklungsmaßnahmen vereinfachen. Entsprechend ist auch die Breite dieser
Uferbereiche an die örtlichen Verhältnisse anzupassen. Entkopplung und
finanzielle Belastung von unverträglichen Nutzungsansprüchen. Alle
unverträglichen Nutzungen sind schrittweise von den Auen abzukoppeln. Dazu sind:
- die Klassifizierungen der Wasserstraßen an die Entwicklungsziele der Flüsse
anzupassen oder die Wasserstraßen stillzulegen, wenn ein weiterer Betrieb dann
nicht mehr sinnvoll ist,
- Verkehrstrassen zu bündeln und so zu gestalten, dass sie Auen nur im
Ausnahmefall berühren,
- Siedlungsflächen aus der Aue zu verlegen (außer in Ballungsräumen),
- unverträgliche Landnutzungen zu ändern und
- unverträgliche Freizeitnutzung zu unterbinden. Unverträgliche Nutzungen sind
nicht mehr zu subventionieren, sondern finanziell zu belasten. Bei vorhandenen
Alternativen sind die Belastungen schrittweise zu erhöhen. Unverträglich sind
z.B. solche Nutzungen, die Stoff-einträge in Gewässer verursachen, die
natürliche Dynamik behindern oder ein Ausbau- bzw. Unterhaltungserfordernis für
den Fluss bewirken.
Gesellschaftliche Konsequenzen
Um das Leitbild „Lebendige Flüsse“ im Rahmen einer neuen Flusspolitik
umsetzen zu können, sind folgende Voraussetzungen zu erfüllen:
- gesellschaftliche Anerkennung der Leitbilder,
- Verankerung der Leitbilder im Grundwissen,
- neue gesetzliche Regelungen als Basis für die Umsetzung,
- Umorientierung konventioneller Verwaltungen und
- Schaffung von Beispielen als Vergleichsbasis.
Gesellschaftliche Anerkennung der Leitbilder
Die Entwicklung unserer Flüsse und Auen hin zu einem ökologisch guten
Zustand im Sinne der europäischen Wasserrahmenrichtlinie ist als bereits
anerkanntes gesellschaftliches Ziel mit dem Ziel der Erreichung der
Gewässerstrukturgüteklasse II, bei gleichzeitiger Erreichung der
Gewässergüteklasse II, zu verknüpfen. Weiterhin sind Flüsse hin zu einem
ökologisch sehr guten Zustand mit einer Gewässerstrukturgüteklasse 1 und der
Gewässergüteklasse 1 als Referenzgewässer zu entwickeln. Dazu sind von Bund und
Ländern im Rahmen der Umsetzung der europäischen Wasserrahmenrichtlinie
Aktionsprogramme zu verabschieden.
Verankerung der Leitbilder im Grundwissen
Die Verankerung der Leitbilder in der Gesellschaft erfolgt auch über die
Schulbildung. Deshalb sind sie in Schulen, der Berufsbildung und in
Studieneinrichtungen in geeigneter Weise zu vermitteln.
Neue gesetzliche Regelungen
Die oben genannten Aktionsprogramme sind von gesetzlichen Grundlagen zu
begleiten. Schlüsselgesetze, wie z.B. das Bundeswasserstraßengesetz, die
Wassergesetze des Bundes und der Länder, die Raumordnungsgesetzgebung und das
Baurecht, die Flurbereinigungsgesetze und die Gesetze mit Landnutzungsinhalten
müssen ent-sprechend angepasst werden. Die Entwicklungsziele sind dort
aufzunehmen. Weitere wichtige Schnittstellen sind die Förderprogramme, etwa für
Landnutzer und öffentliche Haushalte. Förderungen sind klar an den oben
genannten Kriterien auszurichten, öffentliche Haushaltsmittel sind ebenfalls
daran zu binden. Das noch aufzulegende Aktionsprogramm „Lebendige Flüsse“ des
Bundes und der Länder bedarf einer gesonderten Finanzierung, insbesondere in der
Anlaufphase, und einer deutlichen Kennzeichnung als Schwerpunktaufgabe.
Umorientierung konventioneller Verwaltungen
Letztendlich sind konventionelle Verwaltungen mit ihrer Aufgaben- und
Finanzierungsstruktur, aber auch öffentlichrechtliche Körperschaften, wie die
Wasser- und Bodenverbände, an die neuen Ziele anzupassen. Steht heute noch die
Nutzungsoptimierung als Auftrag vieler öffentlicher Verwaltungen, wie etwa der
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes im Vordergrund, sind deren Ziele
künftig auf die Umsetzung der Leitbilder auszurichten. Dabei ist auch eine
stärkere Zusammenarbeit zwischen den Bundesländern, aber auch auf europäischer
Ebene, mit dem neuen Ansatz geboten.
Schaffung von Beispielen
Flächendeckend sind Beispielregionen zu suchen. Sie müssen einen
repräsentativen Querschnitt ergeben. Hier sind die neuen Anforderungen und
Gesetze in einem Sonderprogramm zu erproben.
NABU Landesverbände
NABU Baden-Württemberg: Tübinger Str. 15, 70178 Stuttgart. NABU-Partner Bayern –
Landesbund für Vogelschutz
(LBV): Eisvogelweg 1, 91161 Hilpoltstein. NABU Berlin: Hauptstr. 13, 13055
Berlin. NABU Brandenburg: Lindenstr.
34,14467 Potsdam. NABU Bremen: Contrescarpe 8, 28203 Bremen. NABU Hamburg:
Habichtstr. 125, 22307 Hamburg.
NABU Hessen: Garbenheimer Str. 32, 35578 Wetzlar. NABU Mecklenburg-Vorpommern:
Zum Bahnhof 24, 19053
Schwerin. NABU Niedersachsen: Calenberger Str. 24, 30169 Hannover. NABU
Nordrhein-Westfalen: Merowingerstr.
88, 40225 Düsseldorf. NABU Rheinland-Pfalz: Frauenlobstr. 15-19, 55118 Mainz.
NABU Saarland: Antoniusstr. 18,
66882 Lebach. NABU Sachsen: Löbauer Str. 68, 04347 Leipzig. NABU Sachsen-Anhalt:
Schleinufer 18a, 39104
Magdeburg. NABU Schleswig Holstein: Carlstr. 169, 24537 Neumünster. NABU
Thüringen: Dorfstr. 15, 07751 Leutra.
Impressum
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www.NABU.de
Text: Rocco Buchta, NABU-BFA Lebendige Flüsse
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